Cover
Titel
The Stuff of Soldiers. A History of the Red Army in World War II through Objects


Autor(en)
Schechter, Brandon M.
Reihe
Battlegrounds: Cornell Studies in Military History
Erschienen
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
$ 36.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Brandon M. Schechter war 2020 Stipendiat an der New York University und bis Frühjahr 2020 adjunct professor an der Historischen Fakultät und am Harriman Institut der Columbia University. Er gehört zur nachwachsenden Historiker-Generation in offensichtlich instabilen Beschäftigungsverhältnissen. Kann es sein, dass dieser Situation eine Danksagung geschuldet ist an alle Lehrer, Kollegen, Archivare, Freunde und Familienangehörige, insgesamt 119 Personen und fünf Familienangehörige, die seinen Werdegang begleitet haben?

Die Europäische Universität in Sankt Petersburg verlieh der vorliegenden Arbeit 2020 einen Preis, denn in der Monografie geht es um mehr als um die materielle Ausstattung der sowjetischen Soldaten. Die Studie beruht auf Archivalien, einer guten Kenntnis der angelsächsischen und russischen Literatur und auf Erinnerungen von ehemaligen Rotarmisten, zumeist Artilleristen. Im Zentrum der Arbeit steht die materielle Ausstattung der sowjetischen Soldaten und Soldatinnen im Zweiten Weltkrieg – von der Verpflegung, der Einkleidung über ihre Feldausstattung – Gefäße, Löffel, Gürtel, „Todespässe“ (S. 29), also Erkennungsmarken, dem Rotarmisten-Büchlein – Orden und Auszeichnungen, Rucksäcken und ihrem Inhalt bis zu Spaten und Waffen.

Ausführlich wird das Leben und Kämpfen in den Schützenlöchern und -gräben wie den Frontbunkern geschildert. Schechter vergleicht diese Situationen mit den neuen Industriezentren mit ihren Erdbehausungen, Baracken und anderen Massenunterkünften für die in die Industriezentren geschickten Zuwanderer. Die einzige Möglichkeit zur Erholung lieferten Aufenthalte in den Lazaretten, weil mit Ausnahme der Gardetruppen und Artilleristen sowjetische Soldaten keinen Urlaub erhielten. Das letzte Kapitel behandelt die Begegnung „mit der fremden Welt der Güter“ (S. 212) westlich der sowjetischen Grenzen in Rumänien, Ungarn, Polen und vor allem im Deutschen Reich. Das Verhalten der Rotarmisten zur Welt der Dinge im Ausland sieht Schechter bestimmt durch Wut, Gier und eine Erfahrung des Andersseins.

Neben der Funktion der Gegenstände behandelt Schechter deren emotionale Aufladung durch die Nutzer. Dies gilt für die Waffen ebenso wie für die wenigen privaten Gegenstände wie dem hölzernen Löffel, den die Soldaten von zu Hause mitbrachten, dem Tabakbeutel oder der Tabakdose, beschriftet und verziert, manchmal auch für Kreuze, Amulette und Briefe; Fotos werden nicht erwähnt.

Schechters Darstellung geht über die ethnographische Beschreibung der materiellen Gegenstände der Soldaten hinaus. Er sieht ihre Welt durch einige Faktoren bestimmt, die ihr materielles Umfeld, ihr Leben, Kämpfen und Sterben maßgeblich geprägt haben. Schechter begreift die Rotarmisten mit Stalin als „Schräubchen“, als feudales Besitztum („fiefdom“, S. 20) der Obrigkeit, welche ihre Angehörigen so gut es ging ausstattete und bewaffnete, sie besonders 1941 und 1942 rücksichtslos in den Kampf schickte und sie verbluten ließ. Gleichwohl sei aus der ethnisch und sozial extrem heterogenen Masse der zu großen Teilen immer noch aus ländlichen Verhältnissen stammenden Soldaten im Laufe des Krieges so etwas wie eine uniformierte, in vieler Hinsicht auch modernisierte kämpfende – zudem siegreiche – Gemeinschaft entstanden. Die Sozialisierung durch den Krieg wie durch den Umgang mit den modernen Waffen vergleicht er mit dem Modernisierungsschub der gewalttätigen Industrialisierung der 1930er-Jahre. Die politischen Maßstäbe bei Rekrutierung und eventuell Aufstieg entfernten sich von den Kriterien des Klassenkampfes. Sie erlaubten nun Angehörigen von bis dahin sozial und politisch diskriminierten Bevölkerungsgruppen, sich fürs Vaterland zu opfern. An die Stelle sozialer traten ethnische und neue politische Antagonismen gegen die internen Feindvölker und Kollaborateure wie der alles überwölbende Hass auf die „deutsch-faschistischen Aggressoren“.

Als zweiten wesentlichen Aspekt, der den Umgang mit der Welt der Dinge bestimmte, gilt die Findigkeit der zumeist bäuerlichen Soldaten. Die „Schräubchen“ waren eben nicht nur passive Objekte des Drills und der Indoktrination, sondern auch Akteure, die zum Teil schon zuvor gelernt hatten, mit der Knappheit von Gütern umzugehen und sich die moderne Technik anzueignen. Umgekehrt galten die Rüstungsgegenstände – von den Handwaffen über die Artillerie bis zu den Panzern – zugleich als robust und den russischen Verhältnissen angepasst. Zudem waren die sowjetischen Waffen vergleichsweise leicht zu handhaben für Soldaten, die oft wenige technische Vorkenntnisse mitbrachten und schnell angelernt werden mussten.

Wie auch in anderen Armeen wurden Waffen nicht nur genutzt, sondern auch emotional „angeeignet“. Dies galt für die Maschinenpistole ebenso wie für den Panzer T-34, der nur von politisch zuverlässigen Kommandanten geführt werden durfte, und mehr noch für Stalins bevorzugte Waffe – die Artillerie, „die Königin des Feldes“ (S. 174), als „Katjuscha“ verniedlicht und von den Deutschen als „Stalinorgel“ gefürchtet. (Diesen Begriff kennt Schechter nicht, was auch mit der Unkenntnis deutschsprachiger Literatur zum Thema zu tun haben dürfte.) Schechter beschreibt das emotional aufgeladene Verhältnis auch am Beispiel des Spatens und des ständigen Eingrabens: der Spaten als Lebensretter, von der Führung propagiert und den Soldaten so auch angeeignet. Gepflegt und propagiert wurde das Töten. Besonderes Ansehen genossen die Scharfschützen und Scharfschützinnen. „Im Töten realisierte sich die Zugehörigkeit zur sowjetischen Gemeinschaft“ (S. 153). Töten wurde zur Stoßarbeit – so die Propaganda. Wie auch in anderen Armeen hat die Mehrheit der Soldaten wahrscheinlich selten oder nie geschossen, was hier kaum thematisiert wird.

Trotz des Bewegungskrieges spielten Schützenlöcher, Schützengräben und Frontbunker im Alltag der Rotarmisten besonders in den großen Schlachten etwa um Stalingrad und Kursk für die Sozialisierung und den Kriegsalltag eine große Rolle. Obwohl die Fluktuation, also die Zahl der Getöteten, Verwundeten und Vermissten besonders in der Infanterie sehr hoch war, gab es auch so etwas wie eine kameradschaftliche Sozialisation. Hier zelebrierten Agitatoren die „Treffen der Rache“. Wichtiger dürften allerdings Entspannung, Musizieren, Unterhaltung und Austausch, etwa das oft öffentliche Verlesen oder Schreiben von Briefen – manchmal unter Anleitung oder Aufsicht –, gewesen sein.

Schechter geht auch auf das Verhältnis der Geschlechter ein, dass in den letzten Jahren schon häufiger, auch literarisch, behandelt worden ist. Entgegen heroisierenden Darstellungen, besonders im Fall der Jagdfliegerinnen und Scharfschützinnen, war der Alltag der meisten Soldatinnen und anderen weiblichen Angehörigen der Roten Armee deshalb besonders beschwerlich, weil die Ausstattung, Unterbringung und Bewaffnung ganz auf Männer ausgerichtet waren. Schechter zitiert auch protegierende Einstellungen durch Männer, aber viele Soldatinnen mussten sich einem Kommandeur als Geliebte zuordnen, um sich auf diese Weise vor Zudringlichkeiten zu schützen. Wie bei Krankenschwestern im Ersten Weltkrieg war das Ansehen der Soldatinnen nicht sehr hoch. Der Begriff der „mobilen Feldfrau“ (S. 40) war nicht freundlich gemeint. Bei der Schilderung des Verhaltens der Rotarmisten in Deutschland – die Frauen als Beute – stützt sich Schechter auf die vorhandene englischsprachige Literatur.

Die Arbeit ist originell in ihrem Zugang, bei der Beschreibung und Analyse der materiellen Kultur der Rotarmisten. Allerdings wird zu wenig zwischen den Waffengattungen selbst unter den Bodentruppen differenziert. Überzeugend ist die Betonung der – wenn auch gewalttätigen – transformierend-modernisierenden Rolle des Krieges. Geradezu hymnisch wird Schechter, wenn er aus den Kriegserfahrungen heraus eine Völker übergreifende „neue“ Gemeinschaft entstehen sieht. Hier erliegt er wohl zu sehr der Erinnerungsliteratur und marginalisiert die Kosten des Sieges. Dass der „Große Vaterländische Krieg“ zum zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion wurde, ist unstrittig. Dass dieser Gründungsmythos bei allem Pathos beträchtliche Teile der Bevölkerung ausschloss – die Kriegsgefangenen, die Ostarbeiter und Ostarbeiterinnen, die Bevölkerung der besetzten Gebiete wie die „internen Feindvölker“ und Insassen des Gulag – müsste dann doch in die Bilanz einbezogen werden. Vom bereits im Krieg virulenten Antisemitismus ganz abgesehen.

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